Tausend Träume


das erste Buch über die Musik von Udo Jürgens

Leseproben


Gehet hin und vermehret euch (1988)

Zu Jürgens‘ unzweifelhaft ernstesten Anliegen aus der Abteilung Zeitkritik gehört die Problematik von Abtreibung und Geburtenkontrolle; schon Ende der sechziger Jahre hat er sich öffentlich zu seinem Standpunkt bekannt. Ich gebe zu, daß ich in dieser Frage Sympathie für die radikal ablehnende Haltung (nicht nur) der katholischen Kirche habe, für eine Haltung, deren Kern mit den Worten umschrieben werden kann: Probleme, die Leben bedrohen, nicht auf Kosten anderer Leben lösen. Ich kann diese Sympathie sogar gedanklich rechtfertigen: damit, daß das »Platzen« des nicht »aufblasbaren« Globus aufgrund des Bevölkerungswachstums keineswegs so unausweichlich ist, wie es der Tod einer Mutter sein kann, wenn sie ihr Kind gebären würde (der einzige Fall, in dem niemand die Berechtigung, Leben zu verweigern ‑ nämlich dem Ungeborenen ‑, in Zweifel zieht); daß es vielmehr gute Gründe für die Annahme gibt, die Erde könnte noch weitaus mehr Menschen ernähren, als heute auf ihr leben. Aber es ist auch wohlfeil, »Sympathie« für diese Radikalposition zu haben, ohne selbst nach Manneskräften Leben schenken zu wollen.

›Gehet hin und vermehret euch‹ (1988), Jürgens‘ Lied zum Thema, legte sich in Text und Musik mit dem Papst an und erregte das gewünschte Aufsehen. Die Deutsche Bischofskonferenz erwog eine Klage. Diverse Sender spielten das Lied nicht, der Bayerische Rundfunk setzte es sogar ausdrücklich auf den Index (was Jürgens mit »Nazi-Methoden« verglich…). Wolfgang Neuss malte sich aus, wie »der andere Udo, Lindenberg« es machen würde: »nach Rom fahren, dem Papst eine Krakauer mitbringen und singen ›Afrika hat einen Stich, Hauptsache, der Papst vermehret sich nich‹«. Neuss gestand seinen Neid ein »auf das Glück, mit solch einem Heilsarmee-Song noch anzuecken«, und Hans Scheibner glaubte sich abgekupfert. Weitgehend unbemerkt scheint damals geblieben zu sein, daß Jürgens das Antlitz des Papstes, polemisch überspitzend, indirekt als Larve darstellt, hinter der sich die Teufelsfratze verberge: die Verse »Denn der [der Teufel] hat ja so viele Gesichter, / schöne Masken der Niedertracht« werden auf diesselbe Melodie gesungen wie vorher die Verse »Und da hat einer gütige Hände / und ein gutes, kluges Gesicht« (Text: Friedhelm Lehmann). Wie Beat und Drive für einen Augenblick dem satanisch-arglistig gemimten weihevollen Gebaren, ja der frömmelnden Salbaderei liturgischer Handlungen weichen, das ist kompositorisch jedenfalls gut gemacht.

›Gehet hin und vermehret euch‹ dürfte von Anfang an als Satz jener »symphonischen Trilogie« konzipiert worden sein, der auch ›Wort‹ und ›Die Krone der Schöpfung‹ (1999) angehören sollten ‑ als Satz eines Opus, das »Wege der Klassik und der Unterhaltungsmusik zusammenzuführen« bestimmt war. Die »Klassik« ist in ›Gehet hin…‹ durch das Vorspiel und spätere Passagen im Stil eines barocken ›Clavier‹-Konzerts vertreten, die wohl ‑ man beachte auch das gehetzte Tempo, das Jürgens spielt und spielen läßt ‑ das gleichsam epidemisch Aggressive des Bevölkerungswachstums sinnfällig werden lassen sollen.